Fuchs und Funkenstein.

Humoreske von Teo von Torn
in: „Hessische Post” vom 03.07.1903,
in: „Hessische Morgenzeitung” vom 03.07.1903,
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 04.08.1903


Das Liebesmahl hatte seinen üblichen Abschluß gefunden — oder vielmehr die üblichen Abschlüsse; denn die Sinfonie dieser militärischen Freudenfeste pflegt nie mit einem einzigen Vollakkord zu enden. Wenn man glaubt, es ist aus, flammen immer neue Fortissimi der Begeisterung auf, rütteln die Schläfer wach, ermuntern die vom grauen Elend behafteten und trocknen die Tränen derjenigen, welche etwa bereits bis zum heulenden vorgeschritten sind.

Aber jetzt blieb wohl kaum noch etwas zu erwarten. Die sechs Hoboisten fidelten mit dem Stumpfsinn äußerster Abspannung in eine Atmosphäre hinein, welche ein reguläres Atmen weder durch Lungen noch durch Kiemen gestattete. Man lebte von dem geringen Sauerstoffgehalt der Flüssigkeiten. Leutnant Marbach hatte schon zum siebenten Male den Sang an Aegier dirigiert und Richard Strauß nachgemacht. Die Boxerparade war aufgeführt worden und der neue Niggertanz. Der Schluß war die berühmte Reiterattacke in Eskadronskolonnen gewesen. Neun Stuhlbeine und drei Leichen bedeckten das Schlachtfeld. Die heftige Motion hatte den letzten Rest der Widerstandskraft dieser Wackeren vernichtet — sie wurden beigesetzt zu den übrigen nach den feierlichen Klängen jenes Trauermarsches, dem der schöne Text untergelegt ist: Jetzt — trinkt — er — kei — nen — Rot — spooooon — mehr. — —

Freiherr von Funkenstein, der neugebackene Hauptmann, welcher Ursache und Ovationsobjekt des Liebesmahls gewesen war, hatte sich an diesem ergreifenden Akte in ernster Würdehaltung beteiligt und trat nun wieder an den Tisch, wo sein Jugendfreund, der kleine Oberleutnant von Fuchs, tiefsinnig vor sich hindämmerte.

Bis vor kurzem war dieser noch der Fröhlichsten einer gewesen — von jener heftigen Fröhlichkeit allerdings, die etwas zu verbergen hat. Der leiseste Anlaß kann da einen Stimmungsumschlag herbeiführen. Beim Cake Walk, an dem er mikt Verve und Grazie sich beteiligt, hatte ermit einer seiner hinteren Extremitäten — oder war es mit beiden zugleich? — den neuen Hauptmann von ungefähr in jener Gegend getroffen, wo der Rücken den ehrlichen Namen verliert. Der Herr Hauptmann hatte ihm das untersagt — und a tempo war Alex Fuchs aus dem Kreise der Bacchen und Thorsosträger ausgeschieden, verärgert und gekränkt in seinen heiligsten Empfindungen als Freund und Tanzkünstler.

Es ist ein Brauch von altersher:
Wer Sorgen hat, hat auch Likör.

Oberleutnant von Fuchs hatte sich Kaffee bringen lassen; dazu Kognak, Benediktiner, Chartreuse und all das andere, was man so nach gutem Essen und noch besserem Trinken unter Kaffee versteht. Hinter dieser Flaschenbatterie hielt er sich verschanzt und gab auch die Deckung nicht auf, als der Baron von Funkenstein sich ihm gegenübersetzte. Er sank im Gegenteil noch tiefer in sich zusammen und richtete den Blick der kummervollen Augen starr auf das Gläschen mit dem grünlichen Schnaps der ausgetriebenen Mönche.

Der Hauptmann hatte sich auch einen dieser Magenwärmer eingeschenkt und erhob sein Glas:

„Prosit —!”

Nichts. Kein Bescheid.

„Prosit — Herr Oberleutnant!”

Der Accent war so unzweideutig offiziell, daß Fuchs sich erhob und nach einigen vergeblichen Tastversuchen auf dem Tische auch sein Glas.

„Herr Hauptmann —!”

„Na, also —” bemerkte dieser trocken, indem er seinen kleinen Finger zum Anstoßen hinhielt; „warum geht's denn nu. Setzen Sie sich, Herr Oberleutnant!”

Fuchs kübelte den Chartreuse herunter; dann ließ er sich schwerfällig nueder und verzoh das Gesicht zu einer Grimasse, als hätte er ein gemisch von Schwefelsäure und Glasscherben zu sich genommen. Diese schmerzverzerrte Façadebehielt er bei, als sein Blick sich auf die beiden funkelnagelneuen Sterne heftete, welche die Achselstücke des anderen schmückten. Nachdem er sich fürchterlich geräuspert, stieß er mit belegter Stimme hervor:

„Dann kannst Du mich jetzt also anschnauzen, so oft Du willst —”

„Kann ich.”

„Und Dienst ansetzen, bis ich Öl schwitze —”

„Kann ich.”

„Mich einspunnen, so oft Du willst —”

„Kann ich.”

„Und mir den Buckel hinaufsteigen —”

„Auch das — nur mit dem Unterschiede, daß ich mich damit nicht begnügen, sondern Dir immer gleich auf den Kopf kommen werde. Mein lieber Alex —”fügte er hinzu, indem er die Arme auf den Tisch stützte und den Grimmigen freundlich anblickte, „ich begreife Deinen Zorn vollkommen, aber ich billige ihn nicht. Ich begreife, daß Dir schmerzhaft ist, mich als Deinen Vorgesetzten ästimieren zu müssen, nachdem wir bisher von Kindesbeinen auf nebeneinander hermarschiert sind; aber dieses Empfinden ermangelt der Einsicht und des gerechten Sinnes.”

„So! Ich soll wohl noch Koppstehen vor Entzücken, daß Du mich jetzt noch mehr pisacken kannst mit Deinem verfluchten Bemuttern, mit Deinen Ermahnungen und Zurechtweisungen —”

„Kopfstehen nicht, Alex. Auch nicht den Dir von Gott und der militärischen Obrigkeit Vorgesetzten mit den Hinterflossen ad posteriorem stoßen. Das schickt sich nicht. Du sollst nur einsehen, daß es zu Deinem Besten ist, wenn ich nun auch dienstlich die Machtmittel in der Hand habe, Dich zu einem vernünftigen Menschen zu erziehen, was Du — Dein aufgeregtes und respektwidriges Verhalten zeigt das wieder — noch nicht bist.”

„Aber ich will nicht von Dir erzogen sein!” heulte der Leutnant und schleuderte zwei Stück Zucker so heftig in seinen Kaffee, daß der schwarze Trank aufspritzte. „Du wirst endlich damit aufhören, sonst morde ich Dich! Ich bin nicht Dein Hannepampel!”

„Du bist mein lieber Freund, Alex — und wirst Dir den Kaffee aus dem Gesicht wischen.”

„Nein!! Das werde ich nicht! Ich tue überhaupt nicht mehr, was Du mir sagst! Ich habe es dick, mich von Deiner onkelhaften Art anöden zu lassen. Herrgott im hohen Himmel,” knirschte er mit gefalteten Händen, „das soll noch schlimmer werden, als bisher!? Das ist nicht auszudenken. Als uns noch der Mietszettel hinten raushing, hieß es schon: Alex, tu das nicht! Alex, mach das! Alex, sieh' Dich vor! Dann auf dem Gymnasium; dann auf der Kriegsschule; dann hier — immer dasselbe! Mensch, wenn ich 'mal wirklich entmündigt werden sollte, dann ist Dein verfluchtes Bemuttern daran schuld. Aber dazu soll es nicht kommen! Ich emanzipiere mich von Dir in aller Form, verstehst Du?”

„Das wird Dir nichts nützen, Alex. Meine Freundschaft ist stärker als Deine Unvernunft. Wie willst Du denn Hauptmann werden ohne die treuführende Hand eines wohlwollenden Vorgesetzten — laß das Glas stehen, es macht Flecke! — Nie wirst Du das werden, und vielleicht noch etwas später.”

„Will ich auch gar nicht! Ich nehme überhaupt meinen Abschied und werde Weinreisender!”

Baron von Funkenstein sah aus den durchtriebenen Schalksaugen mißbilligend auf den Rabiaten und schüttelte bedächtig den Kopf. Fast traurig.

„Dann wirst Du mir Rheinwein verkaufen, und mich auf diese Weise unauffällig um die Ecke bringen, nicht wahr? Sieh mal — zu solchen verbrecherischen Dingen neigt Deine schwarze Seele, und das einem Freunde gegenüber, der sich sein Lebtag um Dich gesorgt hat, Trinke übrigens nicht mehr, Alex; mehr wie vier Chartreuse hast Du nie vertragen könen! Was Dein Vorhaben betrifft, so wirst Du Dir dasselbe noch einmal überlegen und dabei zweierlei berücksichtigen: Du eignest Dich nicht zum Weinreisenden; erstens, weil Du ein empfindlicher Mensch bist und zweitens , weil Du bei Deiner, etwas zur Völlerei neigenden Natur alle Proben ausgetrunken haben wirst, ehe Du noch dazu kommst, sie einem Kunden vorzusetzen. Ferner glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können, daß meine Schwester einen Weinreisenden nicht heiraten wird — und das scheint mir nicht unwichtig, nachdem Du mir gestanden hast — —”

Oberleutnant von Fuchs ließ den fünften Chartreuse, welchen er eben aus Eigensinn und „Emanzipation” zu sich nehmen wollte, sinken. Seine etwas stieren Augen gewannen Leben und Interesse.

„Baroneß Hilde —” murmelte er verklärt vor sich hin und schob den Likör so weit fort, als er mit ausgestrecktem Arm über den Tisch reichte. Dann legte er die Rechte schwer auf die gefalteten Hände des andern „Du — den Namen hättest Du hier nicht erwähnen dürfen — das — das ist Blasphemie!” Ein rauher Laut, wie ein Schluchzen, entrang sich ihm.

„Wenn Du das heulende Elend kriegst, lasse ich Dich sofort beisetzen, mein Lieber. Bist Du aber vernünftig, so werde ich Dir verraten, daß Hilde gestern von der Reise heimgekehrt ist und sich sogar schon nach Dir erkundigt hat.”

Baron von Funkenstein versuchte vergeblich, durch einen seitlichen Sprung mit seinem Stuhle sich zu retten. Der Oberleutnant hatte sich ihm über Tisch, Flaschen, Tassen und Gläser hinweg mit solcher Wucht an den Hals geworfen, daß die ganze Hufeisentafel in bedrohliches Schwanken geriet.

„Nach mir! — Und sie ist da! — Mensch, Du weißt ja nicht, was ich ausgestanden habe in dieser Zeit! Aber morgen komme ich — morgen mu8 sich alles entscheiden! — Nicht einen Tag warte ich länger mehr in dieser tötenden Ungewißheit! — Morgen — — —!”

„Na, schön. Morgen. Aber heute lasse mich gefälligst los! Wenn Du mich erwürgst, kann ich Dir morgen weder behülflich sein, noch Dir meinen Segen geben. Los sage ich, zum Donnerwetter nochmal! Herrrrrr Oberleutnant! — ich muß doch bitten —!!!”

Das zog. Fuchs verlegte seinen Schwerpunkt wieder nach hinten. Noch einige leichte Schwankungen — und er stand.

„Herr Hauptmann —” jauchzte er. „Du bist mein freund?”

— — —

Am Nachmittag des andern Tages ging bei dem Offizierkorps des Regiments ein seltsames Gerücht von Mund zu Mund.

Oberleutnant von Fuchs hatte gegen den Hauptmann Freiherrn von Funkenstein den Ehrenrat angerufen — —!”

Einer raunte es dem andern zu — und der andere machte genau so ein verdutztes und ungläubiges Gesicht wie der eine, als er es zuerst erfahren. Man schüttelte den Kopf und kam überein, daß die Geschichte absolut unwahrscheinlich sei. Die Dioskuren! Die Unzertrennlichen! Jugendfreunde von Kindesbeinen an. Außerdem war es allgemein bekannt, wie Leutnant von Fuchs für Baroneß Hilde schwärmte. Einige wandten allerdings ein, daß die Uzerei zwischen den beiden manchmal schon einen explosiven Charakter gehabt habe — namentlich auf Seiten Fuchs'; und dann war dieser möglicherweise auch gereizt, weil der blaue Brief mit dem zweiten Stern ihn, den Gleichpatentierten übergangen — man konnte nicht wissen. Die drei Mitglieder des Ehrenrates, welche natürlich nichts sagen durften, machten so seltsame Nasenflügen —

Trotzdem! Es war nicht auszudenken. Wenn auch die allerbesten Freunde sich manchmal ernsthaft verhedderten — bei Fuchs und Funkenstein erschien das ausgeschlossen.

Und doch war's so.

Zu der Stunde, da man sich im „Löwen” zum abendlichen Pils zusammenzufinden pflegte, fehlten Fuchs und Funkenstein. Während letzterer die Tränen der Schwester mit dem Löschblatt seines Humors aufzutrocknen sich bemühte, stand der Oberleutnant von Fuchs in Helm und Schärpe vor dem Regiments­kommandeur, der ihn auf die Meldung des Ehrenrates zu sich berufen hatte.

Der alte Herr redete zum Frieden wie ein Buch. Der Oberleutnant von Fuchs blieb fest: Er wolle und müsse sich mit dem Hauptmann von Funkenstein schlagen!

„Aber mein lieber Fuchs,” wandte der Oberst nachgerade ungeduldig ein; „das ist doch heller Unsinn! Ich sehe keinen Grund! Selbst aus Ihrer schwarzen Schilderung ergibt sich zu ihrer Evidenz, daß es sich um einen Scherz handelt, der sich aus Ihren freundschaftlichen Beziehungen zu dem Herrn Hauptmann von Fukenstein durchaus erklärt!”

„Ein Scherz —” erwiderte der kleine Ober, indem er nur mit Mühe seine straffe Haltung und innere Selbstbeherrschung bewahrte, „allerdings, aber der Herr Hauptmann verkehrt so lange ich ihn kenne, mit mir überhaupt nur in solchen Scherzen! Der Herr Hauptmann mißbraucht unsere Freundschaft auf meine Kosten — und das schon immer! Ich habe jahrelang alles ertragen; diese guten Lehren, die ich nicht brauchte, diese Bevormundungen, die mich kompromittierten! Aber das von heute — — das war zuviel! Ich bitte den Herrn Oberst ganz gehorsamst um die Erlaubnis, einen Vergleich ziehen zu dürfen: Würden der Herr Oberst. als der Herr Oberst um die gnädige Frau angehalten, es selbst von seinem besten Freunde geduldet haben, daß er dem Herr Oberst in die Liebeserklärung hineinkiebitzt!? Solange, bis die Dame schließlich eine solche, doch bitter ernste Sache, scherzhaft nimmt und lachend davonrennt!!? Der Herr Oberst wenden sich ab und lachen wahrscheinlich nauch. Aber mir persönlich,” fügte er mit bebender Stimme hinzu, „ist nicht danach — wenn ich mir gehorsamst diese Bemerkung gestatten darf. Der Herr Oberst hätten nur dabei sein sollen, wie mir dieser — — dieser — Herr Hauptmann den Fußfall vormachte, wie er — — und ich meine, der Ausdruck Taps in Gegenwart einer Dame auf einen Kameraden ist doch unbedingt beleidigend!”

Der alte Herr, welcher am Fenster heftig in sein Tuch geschnaubt hatte, wandte sich um. Seine Augen waren noch etwas feucht und die Stimme belegt, als er sagte:

„Es ist gut, Herr Oberleutnant. ich will nicht mehr auf Sie einreden. Wie Sie in Stimmung sind, fordern Sie mich schließlich auch noch. Ich werde das weitere veranlassen.”

— — —

Nachdem die Affäre Fuchs und Funkenstein erst so weit gediehen war, konnte sie in guter Form nicht mehr rückgängig gemacht werden — selbst dann nicht, nachdem Oberleutnant von Fuchs von der Baronesse Hilde Funkenstein einen lieben Brief erhalten, aus dem unzweideutig hervorging, daß sie ihn durchaus nicht scherzhaft nehme — im Gegenteil.

Dem Oberleutnant ward das Herz so groß und gleichzeitig auch so schwer, wie die Schwimmblase eines Narwals; aber es war nichts zu machen, die Sache mußte ausgetragen werden: vierzig Schritt Distanz, einmaliger Kugelwechsel. Bedingungen, die beinahe schon keine mehr sind; aber immerhin — wenn man nicht aufpaßte, konnte doch ein Unglück passieren.

An einem wunderschönen, taufrischen Morgen standen Fuchs und Funkenstein einander gegenüber. Der Oberleutnant hatte die Vorhand. Er hob die Waffe und zielte — zielte. Aber er kam überhaupt nicht zum Abdrücken. Er mußte lachen — und wenn man so brüllend lacht, wie der Oberleutnant von Fuchs lachte, dann kann man nicht schießen. Da aber ein Pistolenduell ohne Schießen nicht möglich ist, so war es damit zu Ende.

Herr von Funkenstein hatte nämlich beim Zielen des Gegners in seinem herzlichsten und altvertrauten Mahntone von jenseits der vierzig Schritt her herübergerufen:

„Höher, Alex, viel höher! Wie oft habe ich Dir das schon gesagt. Wenn Du so niedrig hältst, geht's in die Hosen —!”

— — —